Zunehmende Polarisierung auf dem Schweizer Arbeitsmarkt – wer sind Gewinner und Verlierer?

Pascal Scheiwiller, CEO der von Rundstedt & Partner Schweiz

Daniel S. ist ein erfahrener IT-Fachmann, der über zehn Jahre bei einem grossen Unternehmen bei der Weiterentwicklung der internen IT-Landschaft mitgearbeitet hat. Vor zwei Jahren wurde ihm gekündigt und seither ist er arbeitslos. Während er sich auf offene Stellen bewirbt und Blindbewerbungen verschickt, muss er fast täglich in der Presse lesen und hören, dass die Firmen keine IT-Spezialisten finden und der Fachkräftemangel in der IT Branche besonders gravierend sei. Das bringt Daniel fast zur Verzweiflung. Unverständnis und Frustration wachsen von Monat zu Monat, es entsteht Groll und Wut. Es gibt viele Daniels. Es gibt gut ausgebildete und arbeitserfahrene Menschen, die vom Arbeitsmarkt ausgegrenzt werden, sich nicht mehr integrieren lassen und nach der Aussteuerung nicht mal mehr in den SECO Statistiken erscheinen. Gleichzeitig beteuern die Wirtschaftsverbände im Chor, dass mit dem Schweizer Arbeitsmarkt alles in Ordnung sei und wir aktuell eine rekordverdächtig tiefe Arbeitslosigkeit von nur 2.5% hätten. Es besteht Klärungsbedarf.

Alles ganz normal…

Es ist nichts Aussergewöhnliches, dass ein Markt nicht immer im Gleichgewicht ist und sich Angebot und Nachfrage nicht gänzlich treffen. Das Phänomen der Parallelität von Fachkräftemangel und struktureller Arbeitslosigkeit ist ein typisches Indiz für Strukturwandel. In einem liberalen Arbeitsmarkt wie in der Schweiz werden betriebliche Anpassungen an strukturelle Veränderungen in Branchen oder Fachbereichen laufend vorgenommen. Ganz im Gegensatz zu einigen anderen europäischen Ländern sind strukturelle Veränderungen im Schweizer Arbeitsmarkt deshalb an der Tagesordnung und fallen dafür weniger gravierend und disruptiv aus. Und genau das beobachten wir zur Zeit in der Schweiz. Durch die zunehmende Veränderungsdynamik verändern sich die technischen und fachlichen Anforderungen an Fachkräfte immer schneller. Die Aus- und Weiterbildungsindustrie boomt zwar und entwickelt sich inflationär. Sie kann aber mit der Agilität der Unternehmen nicht mithalten und den Trainings- und Entwicklungsanforderungen nicht gerecht werden, weil sie für die vorherrschende Veränderungsgeschwindigkeit viel zu statisch ist.

Der Schweizer Staat hält für beide Seiten des Marktes – für Arbeitgeber und Arbeitnehmer – einige Erfolgsrezepte bereit. Auf der einen Seite ist es ein Glücksfall, dass der Schweizer Arbeitsmarkt nach wie vor offen und wenig reguliert ist. Arbeitgeber können fehlende Fachkräfte auf dem globalen Arbeitsmarkt rekrutieren. Damit können Fachkräftemangel und der drohende demografische Engpass mit Arbeitsimmigration kompensiert werden. Sonst könnten einige Arbeitgeber nicht mehr wachsen und würden nicht mehr in der Schweiz investieren, was die Anzahl Arbeitsplätze und den Wohlstand reduzieren würde. Auf der anderen Seite schützen die flankierenden Massnahmen Arbeitnehmer davor, im globalen Wettbewerb Lohneinbussen in Kauf nehmen zu müssen. Ausserdem entschärfen gut funktionierenden Sozialversicherungen und -werke die schwierige Situation von betroffenen Stellenlosen. Von diesen gibt es übrigens mehr als wir denken. Die volle Arbeitslosigkeit beträgt nach ILO Berechnungsstandard in der Schweiz nämlich heute fast 5%. Der ILO Standard ist aber sehr umstritten. Er berücksichtigt zwar im Gegensatz zu den SECO-Zahlen auch die Ausgesteuerten. Er zählt aber diejenigen Arbeitslosen nicht dazu, die Gelegenheitsarbeiten von mehr als einer Stunde pro Woche verrichten, um besser über die Runden zu kommen. Aufgrund dieser relevanten Einschränkung und der fragwürdigen Erhebungsmethode gehen Experten davon aus, dass die wirkliche Arbeitslosigkeit wesentlich höher, nämlich bei mindestens 6-7% zu liegen kommt.

Grundsätzlich funktioniert der Arbeitsmarkt in der Schweiz dank der relativ liberalen und offenen Ausgestaltung nicht schlecht. Trotzdem, es gibt auch im Schweizer Arbeitsmarkt Gewinner und Verlierer. Und durch die starke Zunahme der Veränderungsdynamik findet eine zunehmende Polarisierung zwischen den Gewinnern und Verlierern statt.

Wer sind die Gewinner?

Die Gewinner sind diejenigen Menschen, die durch ihr berufliches Profil den Nerv der Zeit treffen und zu den gesuchten kritischen Fachkräften gehören. Nach ihnen schreit die Wirtschaft. Dazu gehören nicht nur ein Teil der Ingenieure und IT-Spezialisten, sondern unter anderem auch qualifiziertes Pflegepersonal, Industrieschreiner, Fintec Banker oder andere. Von ihnen gibt es nicht genug in der Schweiz. Dieses knappe Talentangebot ist von den Arbeitgebern hart umkämpft. Die Verhandlungsmacht liegt klar bei den Arbeitnehmern. Sie können hohe Löhne verlangen, bekommen alle Freiheiten der flexiblen Arbeitsgestaltung und setzen auch die meisten persönlichen Wünsche durch. Sie diktieren die Bedingungen. Und wenn sie nicht entsprechend gefördert werden, dann ziehen sie zum nächsten Arbeitgeber. Fachkräftemangel führt deshalb auch zu steigender Fluktuation, und Employer Branding wird zum neuen Credo erfolgreicher Arbeitgeber. Gemäss unserer letztjährigen Umfrage investieren bereits über 70% der Arbeitgeber gezielt in die Stärkung der Marke als attraktiver Arbeitgeber. Was ist aber dabei entscheidend, um diese Schlüsselpersonen nachhaltig ans Unternehmen zu binden? Wie gewinnen Arbeitgeber heute die Loyalität gerade der jungen Generation zurück, die mehr nach Abwechslung, Selbstverwirklichung und Eigensinn strebt?

Wer sind die Verlierer?

Die Verlierer können aus einzelnen Berufsgruppen kommen, die abgeschafft oder neu erfunden werden, wie Offset-Drucker, Kassierer oder allerlei kaufmännische Profile, die der Digitalisierung zum Opfer fallen. Die Verlierer sind aber grundsätzlich in allen Berufsgruppen zu finden. So werden regelmässig Ingenieure, IT-Spezialisten und andere akademisch Gebildete ausgemustert, obwohl sie auf dem Papier eigentlich vielversprechend aussehen. Die Arbeitsmarktfähigkeit ist vielschichtig und hängt nicht nur von der Ausbildungsstufe und der Berufsgruppe ab. Es ist auch nicht – wie häufig verdächtigt – eine Frage des Alters. Es gibt heute überhaupt keine statistische Evidenz, dass Ü50 auf dem Arbeitsmarkt gezielt benachteiligt werden. Der Haupttreiber der Arbeitsmarktfähigkeit ist und bleibt das berufliche Profil und das technische Wissen einer Arbeitskraft. Dabei geht es aber nicht einfach um die Berufsgruppe, sondern um die technischen und inhaltlichen Detailausprägungen von Fähigkeiten und Erfahrungen. Und da sich die Anforderungen durch die hohe Dynamik und Agilität im betrieblichen Umfeld laufend verändern, kann man heute schnell zu einem Verlierer werden. In diesem Teil des Arbeitsmarkts liegt die Verhandlungsmacht klar auf der Seite der Arbeitgeber, welche die Bedingungen diktieren. Durch diese Marktmacht entsteht bei den Arbeitgebern eine kompromisslose Rekrutierungspraxis, d.h. es werden nur Bewerber eingestellt, die vollständig den Profilanforderungen entsprechen (Zero Gap). Es gibt ja genügend Bewerber auf dem Markt. Die Unternehmen können sich die besten aussuchen. Es gibt auch kaum Lohndruck, ausser die Gewerkschaften setzen Lohnerhöhungen in Gesamtarbeitsverträgen durch. Der einzelne Mitarbeitende hat wenig Verhandlungsspielraum für individuelle Bedingungen und Wünsche. Und die schwächsten Profile bleiben auf der Strecke, finden keine Arbeit mehr, werden ausgesteuert. Hier entsteht strukturelle Arbeitslosigkeit, welche sich schleichend unter dem Radar der SECO entwickelt.

Die Arbeitgeber sind sich heute aber durchaus bewusst, dass sie auch in diese Gruppe des Arbeitsmarktes investieren müssen. Sie können es sich auf die Dauer nicht leisten, Menschen mit einem ausgedienten Profil voreilig zu entlassen, um auf dem Markt nach besser passenden Arbeitskräften zu suchen. Der demografische Wandel wird das Angebot an Arbeitskräften derart reduzieren, dass nicht genügend qualifizierte Ressourcen auf dem Markt sein werden. Deshalb sehen wir heute schon bei vielen Arbeitgebern, dass gezielt in die Entwicklung der Beschäftigungsfähigkeit aller Mitarbeitenden investiert wird. Programme zur Förderung von Agilität oder beruflicher Flexibilität, interne oder externe Weiterbildungsinitiativen und die Förderung von interner Mobilität sind heute schon häufig Teil der Agenda von Personalabteilungen. Gemäss unserer letztjährigen Umfrage investieren bereits 58% der Arbeitgeber in Massnahmen zur Stärkung der Beschäftigungsfähigkeit ihrer Mitarbeitenden. Wenn es trotzdem zu Entlassungen kommt, gehören Outplacement Programme heute zum Standard eines attraktiven Arbeitgebers. Betroffene werden nicht alleine gelassen. Viele Arbeitgeber kümmern sich darum, dass eine neue externe Lösung gefunden wird. Das ist ein gutes Zeichen. Wie kann ein Arbeitgeber sicherstellen, dass sich die Mitarbeitenden synchron mit der dynamischen Entwicklung der Organisation mitentwickeln? Wie können Menschen mit Profilen, die bereits ausgemustert wurden, neu ausgerichtet, umgeschult und wieder in die Arbeitswelt integriert werden?

Und jetzt?

Mit der Digitalisierung stehen wir vor einem grossen Strukturwandel, wie einst bei der Erfindung der Dampfmaschine, der Elektrizität oder den grossen Industrialisierungswellen. Er betrifft alle Branchen und wirkt sich mehr oder weniger gleichzeitig auf alle Berufsgruppen aus. Vor diesem Hintergrund ist es für eine Gesellschaft dabei wichtig, sich auf die Entwicklung und die Integration des Menschen zu konzentrieren. Um eine staatliche Regulierungswelle zu verhindern und den Wirtschafts- und Lebensstandort Schweiz attraktiv zu halten, sollten die Arbeitgeber pro-aktiv vorangehen und selbst die nötigen Massnahmen ergreifen. Das hat nichts mit sozialer Verantwortung zu tun. Es ist eine Grundvoraussetzung für eine nachhaltige unternehmerische Erfolgsstrategie.


Bereits seit 1985 berät von Rundstedt Unternehmen und Einzelpersonen in Fragen rund um die Karriere und die Laufbahnentwicklung. von Rundstedt ist heute an 26 Standorten und mit mehr als 390 Mitarbeitern in Deutschland, Österreich und in der Schweiz tätig. Zur weiteren fokussierten Entwicklung der Geschäftstätigkeit in der Schweiz hat von Rundstedt 2014 die von Rundstedt & Partner Schweiz AG gegründet. Gerne beraten wir Sie an unseren acht Standorten in Basel, Bern, Genf, Lausanne, Lugano, Luzern, St. Gallen, Zug und Zürich. www.rundstedt.ch