Peter G. ist ein erfahrener Banker, der zuletzt fast fünfzehn Jahre bei einer grossen Bank im Asset Management tätig war. Er beschreibt sich selber als Bankallrounder. Nach einer Banklehre hat er in verschiedensten Bankdisziplinen gearbeitet, vom Kreditgeschäft, über die Privat- und Firmenkundenberatung hin zum Private Banking. Schlussendlich ist er im Asset Management gelandet. Zwischendurch hat er zwei Jahre im Recovery Team einer Kantonalbank gearbeitet. Heute ist Peter 55. Vor drei Jahren wurde ihm gekündigt und seither ist er arbeitslos. Während er sich auf offene Stellen bewirbt und Blindbewerbungen verschickt, bekommt er nur selten die Möglichkeit, sich persönlich vorzustellen. Seine Bewerbungen auf offene Stellen versanden in der Regel irgendwo auf einer Bewerbungsplattform. Und Blindbewerbungen werden entweder nicht beantwortet oder als Absage immer mit den gleichen Floskeln zurückgewiesen. Inzwischen bewirbt sich Peter nicht nur in der Banken- und Versicherungsbranche, sondern ganz breit in verschiedensten Bereichen und auf jegliche mögliche Jobs. Er hat praktisch keine Lohnansprüche mehr, wäre seit seiner Aussteuerung mit einem Salär von CHF 5’000 zufrieden und ist bereit, Neues zu lernen und Anderes zu machen. Trotzdem will es einfach nicht klappen. Sein soziales Umfeld reduziert sich immer mehr, Peter geht auch kaum mehr an öffentliche Veranstaltungen. Was soll er denn den Leuten noch erzählen? In seinem familiären Umfeld schwindet allmählich das Verständnis. Verzweiflung und Frustration macht sich breit. Für Peter ist klar: als Ü50 hat man es auf dem Arbeitsmarkt besonders schwer.
Alle schreien
Geschichten, wie die von Peter, gibt es viele. Daraus abzuleiten, dass wir ein Ü50 Problem im Schweizer Arbeitsmarkt haben, wäre zu einfach und zu kurz gegriffen. Denn nicht nur die Ü50 beklagen sich über eine konkrete Benachteiligung. Auch Junge haben zum Teil Mühe, in den Arbeitsmarkt hineinzukommen. Mangelnde Erfahrung oder schlechte Arbeitsmoral werden ihnen vorgehalten, die vielen Jahre Studium zu wenig geschätzt. Auch Frauen beklagen sich, zu wenig für wichtige Stellen und Funktionen berücksichtigt zu werden. Im Alter zwischen 30 und 40 spüren sie ausserdem die Schwangerschaftsangst der Arbeitgeber. Sogar Herr und Frau Schweizer fühlen sich im eigenen Arbeitsmarkt im Nachteil und unlauterem Wettbewerb ausgesetzt. Ihre natürlichen und gerechtfertigten Lohnansprüche würden von billigen Ausländern masslos unterboten. Ausländer ohne genügende lokale Sprachkenntnisse beklagen sich ihrerseits über einen schweren Stand, zumal immer noch nicht alle Schweizer Arbeitgeber auf Business English umgestellt hätten. Dann gibt es viele Schweizer Arbeitskräfte ohne höhere Ausbildung, welche sich beklagen, dass in der akademisierten Schweiz von heute man ohne Bachelor oder Master auch für «normale» Stellen kaum mehr Einstellungschancen hat. Gewerkschaften kritisieren das Leistungsprinzip und die fehlende soziale Verantwortung von Arbeitgebern, um auch leistungsschwächeren Arbeitskräften eine Daseinsberechtigung auf dem Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Und und und… Es gehört heute zum guten Ton, Missstände auszurufen und Diskriminierung zu beklagen. Statt partikulare Einzelschicksale individuell zu lösen, wittert man Verschwörungen, schreit man nach Verboten und Geboten und stellt lieber das gut funktionierende Ganze in Frage. Haben wir wirklich ein Ü50 Problem auf dem Schweizer Arbeitsmarkt? Oder liegt die Ursache der Schwierigkeiten einiger Ü50 woanders?
Fakten
Bevor wir diese Frage beantworten, möchte ich ein paar Fakten beider Seiten aufzeigen.
Was spricht gegen ein strukturelles Ü50er Problem:
- Die Schweiz erzielt mit einer Ü50 Erwerbsquote von 80-81% (2019) einen Spitzenwert im OECD Ranking. Die Schweiz belegt den fünften Platz. Im europäischen Vergleich ist nur Schweden besser platziert.
- Kündigungsquote: Die Kündigungsquote lag 2019 gemäss dem von Rundstedt Arbeitsmarktbarometer für Ü50 mit 31% in etwa auf gleicher Höhe wie der relative Beschäftigungsanteil von 30%. Somit lag das Kündigungsrisiko völlig im Durchschnitt. Bei den 40-50 Jährigen lag die Kündigungsquote mit 42% allerdings signifikant über deren Beschäftigungsanteil von 26%.
- Die Arbeitslosenzahlen des SECO sagen, dass die Ü50 Arbeitslosigkeit 2019 etwa durchschnittlich war und sich im Rahmen der Gesamtarbeitslosigkeit bewegte. So lag die Quote registrierter Ü50 Arbeitslosen bei 2.1% (Total 2.3%). Da sich die Ü50 Erwerbslosenquote gemäss ILO mit rund 4% auch unter dem Durchschnitt (Total 4.4%) und die Unterbeschäftigungsquote mit 7.7% knapp über dem Durchschnitt (Total 7.3%) befinden, liegt als Folge dessen die Arbeitsmangelquote der Ü50 mit 11.7% genau gleich auf mit der gesamtschweizerischen Quote (Total 11.7%).
- Durch die demografische Entwicklung steigt die Ü50 Erwerbsbevölkerung prozentual zu den anderen Bevölkerungsgruppen. Das bedeutet, es gibt bei stabilen Erwerbslosenzahlen absolut mehr Ü50 Arbeits- und Erwerbslose. Dies führt automatisch zu Wahrnehmungsverzerrungen.
- Man hört in Diskussionen, in der Presse und auf sozialen Medien primär Betroffene, welche unter ihrer individuellen Situation leiden. Die grosse schweigende Mehrheit ohne unmittelbaren Arbeitsmarktprobleme beteiligt sich nur unzureichend an der Diskussion. Auch dies führt zu Wahrnehmungsverzerrungen.
- Der von Rundstedt Arbeitsmarktbarometer verzeichnet bei der Suchdauer von gekündigten Ü50 im Durchschnitt zwar einen höheren Wert, gleichzeitig aber eine viel grössere Varianz. Es gibt somit auch zahlreiche Ü50 Arbeitssuchende, bei denen die Stellensuche sehr kurz ist.
Was spricht für ein strukturelles Ü50er Problem:
- Die Erwerbsquote der 55-64 Jährigen liegt mit 76% deutlich unter der Erwerbsquote der 40-54 Jährigen (91%).
- Die Anzahl neu ausgesteuerter Arbeitslosen ist bei Ü50 signifikant höher als bei den jüngeren Altersgruppen. (BFS Statistik 2019)
- Der relative Anteil von Ü50 innerhalb der gesamten Anzahl Ausgesteuerter liegt über dem Durchschnitt. Während der Anteil von Ü50 innerhalb der der Gesamtheit der Ausgesteuerten zwischen 2002 und 2005 noch bei unter 20% lag, wächst dieser seit 15 Jahren stetig an. Er beträgt mittlerweile über 30% (gemäss Amstat). Somit liegt der Wert über dem relativen Beschäftigungsanteil und ist überdurchschnittlich. Bemerkenswert ist aber vor allem der Trend und der starke Anstieg dieser Zahl während den letzten Jahren, was ein klares Indiz struktureller Probleme ist.
- Die Stellensuche beträgt bei Ü50 Stellenlosen nachweislich länger als bei den jüngeren Altersgruppen. Sie ist gemäss von Rundstedt Barometer 2019 mit 7.8 Monaten signifikant höher als der Gesamtdurchschnitt von 5.8 Monaten; Tendenz steigend.
- Die HR Research Umfrage in der HR Community aus dem Jahr 2019 (1’575 Teilnehmer) zeigt auf, dass ein Grossteil der HR Verantwortlichen glaubt, dass Ü50 Arbeitskräfte bei der Stellensuche diskriminiert werden (72%). Diese Zahl ist aber mit Vorsicht zu geniessen, da diese Wahrnehmung stark von der öffentlichen Berichterstattung beeinflusst ist. Die differenziertere 2018er Umfrage in der gleichen Zielgruppe hat ergeben, dass die HR Manager im Markt allgemein an eine Benachteiligung glauben (81%). Nur eine Minderheit kann eine solche selber im eigenen betrieblichen Umfeld beobachten und bestätigen (nur 33%).
- Wir sehen bei Outplacement Klienten nicht selten, dass Bewerbungen älterer Arbeitskräfte teilweise grundlos abgeschmettert werden, obwohl das berufliche Profil des Bewerbenden zu passen scheint. Auch bekommen Ü50 statistisch gesehen im Durchschnitt viel mehr Absagen, als dies bei jüngeren Stellensuchenden der Fall ist.
Persönliche Einschätzung
Es gibt Argumente auf beiden Seiten. Für mich entsteht hier ein Bild, das ich auch von der praktischen Erfahrung aus der Karriereberatung, der Out-/Newplacement Beratung und der internen Organisationsentwicklung her kenne. Die Beschäftigungs- und Arbeitsmarktfähigkeit ist nicht allein, vor allem aber auch nicht massgeblich vom Alter abhängig. Das Alter ist einer von vielen Faktoren, welche dafür verantwortlich sind, ob eine Fach- oder Führungskraft sich besser oder weniger gut in einem Unternehmen oder bei der Stellensuche auf dem Markt behaupten kann. Es gibt aber offensichtlich eine Korrelation zwischen Alter und Arbeitsmarktfähigkeit. Es ist deshalb notwendig, die altersbedingten Faktoren zu kennen, welche zu einer Abwertung des eigenen Profils im Alter führen können. Auf diese gilt es frühzeitig zu fokussieren. In der Pflicht sind beide Seiten, Arbeitgeber und Arbeitnehmende. Es ist auf der einen Seite verfänglich und zu einfach, individuelle Schwierigkeiten mit dem Alter zu begründen und der Ü50 Falle anzuhängen. Auf der anderen Seite ist es absolut notwendig, dass sich Unternehmen dieser Thematik bewusster werden und Strategien entwickeln, wie sie mit dem Merkmal Alter richtig umgehen. Richtiger Umgang heisst hier, einen Weg zu finden, gemeinsam mit den eigenen Mitarbeitenden Strategien zu nachhaltiger Beschäftigung zu finden. Um in dieser Diskussion weiterzukommen, braucht es deshalb nicht nur den anklagenden Aufschrei der unmittelbar negativ Betroffenen, sondern umso mehr die Stimmen der schweigenden Mehrheit derjenigen Ü50, welche sich aktuell nicht betroffen und benachteiligt fühlen. Nur so entsteht ein ausgewogenes Bild, von dem wir lernen können.
Wir bitten Sie und die ganze Schweizer HR Community, an der von Rundstedt Umfrage zu «Ü50 Realität & Lösungen» teilzunehmen. Wie sieht die Situation in Ihrem Unternehmen in Realität aus? Was unternehmen Sie, um die Beschäftigungsfähigkeit der Ü50 Arbeitnehmenden zu sichern? – Um die Realität aus verschiedenen Perspektiven zu erfassen, hat von Rundstedt dieses Jahr zwei verschiedene Umfragen zu diesem Thema lanciert. Die eine Umfrage richtet sich an die Personalverantwortlichen und die gesamte HR Community. Die zweite Umfrage richtet sich an alle Ü50 Arbeitskräfte in der ganzen Schweiz.
Um die Entwicklung von innovativen und pragmatischen Lösungen zu fördern, hat von Rundstedt als Ergänzung zu den beiden Umfragen zwei Diskussionsrunden zum Thema «Ü50 Realität & Lösungen» organisiert. Die erste Runde besteht aus verschiedenen Ü50 Fach- und Führungskräfte. In der zweiten Expertenrunde diskutieren Helena Trachsel (Kanton Zürich), Daniel Lüscher (EFG), Michelle Mägerle (RUAG) und Pascal Scheiwiller (von Rundstedt) über mögliche Lösungsansätze. Diese Round Tables werden von der HR Today Chefredaktorin Corinne Päper moderiert und in den kommenden HR Today Online und Print-Ausgaben in zusammengefasster Form veröffentlicht.
Die Studieninhalte und Umfrageergebnisse werden im Sommer ausgewertet, im Herbst im HR Today publiziert und im September an verschiedenen Events in Zürich, Lausanne, Genf und Lugano durch von Rundstedt und HR Today präsentiert und diskutiert. Alle Teilnehmenden erhalten die Resultate zugestellt und können sich kostenlos für diese Events anmelden.