Branchenkult – der Totengräber der Innovation
Trotz Strukturwandel und Fachkräftemangel hält sich in der Rekrutierung eine Praxis wie ein Relikt aus der Vergangenheit: der Branchenkult. Wieso eigentlich?
Die Unternehmen predigen Flexibilität und Agilität. Trotzdem verlangen sie weiterhin von Bewerbern jahrelange Branchenerfahrung. Um die Digitalisierung und den damit einhergehenden Strukturwandel zu meistern, brauchen wir in der Schweiz ein hohes Mass an Mobilität der Arbeitskräfte zwischen verschiedenen Branchen, Funktionen und Fachbereichen. Unternehmen rekrutieren heute aber nach wie vor nach dem Zero Gap Prinzip: Bewerber sollen die gleichen Aufgaben, die gleichen Herausforderungen in der gleichen Funktion und in der gleichen Branche bereits mehrfach erfolgreich erfüllt haben. Abweichungen von diesem Sollprofil sollen möglichst vermieden werden.
Die Illusion des Fachwissens
Es ist unspektakulär und beruhigend, wenn Neuzugänge von aussen sich bereits im Branchenumfeld auskennen und das Business kennen. So sind sie viel schneller einsatzbereit und voll leistungsfähig. In Wirklichkeit wird dadurch jedoch eine Illusion geschaffen. Mit der Entwicklung von KI werden die Markteintritts-Barrieren weiter sinken. Es gibt viel mehr Raum für schnelle und innovative Start-ups, welche die etablierten Akteure herausfordern. Unternehmen müssen sich daher laufend neu erfinden, um wettbewerbsfähig zu bleiben und nicht von agileren Konkurrenten überholt und abgehängt zu werden. Dazu braucht es Querdenken und neue Perspektiven. Etabliertes Fachwissen und Erfahrung stehen der Innovation häufig im Weg. Für die Gründer von Airbnb war es ein grosser Vorteil, keine Ahnung von der Hotellerie zu haben. Dasselbe gilt für Netflix, Amazon oder Tesla. Aber nicht nur das grosse Amerika ist innovativ. In der Schweiz gibt es viele vielleicht weniger bekannte, dafür aber umso agilere Unternehmen wie Debiopharm, L.E.S.S., Flyability, Freitag, Sophia Genetics und viele andere, die es geschafft haben, sich selbst zu erfinden oder neu zu erfinden, und zwar nicht mit Branchenerfahrung, sondern mit Inspiration und Innovation.
Die Klonmentalität
Das Zero Gap Prinzip (gleiche Branche, gleiche Funktion) vertraut darauf, dass eine gute Einstellung ein perfektes Klonen des aktuellen Teams ist. Neuzugänge werden daher am liebsten von der Konkurrenz gestohlen. Mit Headhuntern wirbt man die besten Äquivalente der Mitbewerber ab. In Wirklichkeit stellen Unternehmen damit lediglich fügsame Schafe ein, die auf gleiche Weise denken und handeln. So lassen sich keine querdenkenden Talente finden. Es wird ein Marionettenspiel aufgebaut, das darauf programmiert ist, das gleiche langweilige Szenario zu wiederholen. Innovation sieht anders aus.
Vielfalt als soziale Norm
Alle reden von Diversity. Aktuell scheint sich die Vielfalt in der Rekrutierung aber auf die Vielfalt der Geschlechter, der sexuellen Orientierung, der Herkunft oder der Kultur zu beschränken. Es scheint wichtiger, das vierte oder fünfte Geschlecht im Team zu fördern, als echte Profilvielfalt zu entwickeln. Klar: solche Diversitätskriterien sind viel sichtbarer und leichter zu messen als die Vielfalt und Synergien von Profilen. Vor allem Grosskonzerne sind heute Weltmeister bei der demonstrativen Förderung von Diversifikation und Inklusion nach gesellschaftlichen Kriterien. Sie vernachlässigen aber die Vielfalt in Bezug auf Berufserfahrung und berufliche Laufbahnen. Die Einstellung von branchenfremden Bewerbern braucht Mut und setzt voraus, dass man selbst die Berufe in den anderen Branchen kennt. Als Beispiel die Supply Chain: Die Konsumgüterbranche war Vorreiter bei der systematischen Annäherung an ihre Verbraucher (Lagerverwaltung in Echtzeit, Abholung im Geschäft, Lieferung am selben Tag, Online-Käufe mit Abholung im Geschäft, Personalisierung der Angebote etc.). Dasselbe gilt für die Textil- und Modebranche oder den Lebensmittelsektor, die im Bereich der Rückverfolgbarkeit einen wesentlichen Wandel vollzogen haben, um das Vertrauen der Endverbraucher zurückzugewinnen. Diese Erfahrungen wären gerade für den Pharmasektor sehr nützlich, wo die Transformation noch nicht abgeschlossen ist. Da muss der Vertrieb, die Rückverfolgbarkeit von Medikamenten und die Personalisierung von Behandlungen noch weiter verbessert werden, um näher an die Endverbraucher heranzukommen. Dieses mangelnde Verständnis der potenziellen Beiträge branchenfremder Bewerber begünstigt letztlich die aktuelle Rekrutierungspraxis, das Geschlechterkarussell und die organisierte Inzucht, die in Wahrheit auf Kosten der wahren Vielfalt an Fähigkeiten, Ideen und Erfahrungen gehen.
Konformismus und Dinosaurierkult
Wenn alle Mitarbeiter in einem Team oder in einem Unternehmen aus derselben Branche kommen, können ihre Gewohnheiten, Denkweisen und etablierten Prozesse schwer in Frage gestellt werden. In Unternehmen kann man ganze Teams beobachten, die wie ein Rudel an gemeinsamen Werten aus der Vergangenheit festhalten. Sie sind sich daran gewöhnt, die Dinge auf eine bestimmte Art und Weise zu tun. Arbeitsmethoden und Ansätze werden nicht in Frage gestellt. Der Schutz der Komfortzone und der eigenen Gewohnheiten ist wichtiger als Risikobereitschaft, kritisches Denken, Lernen, Mut, Initiative oder Kreativität. Doch gerade solche Future Skills braucht es heute, um die Zukunft eines Unternehmens zu sichern.
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