Fachkräftemangel: Worthype oder Wahrheit?

Fachkräftemangel: Worthype oder Wahrheit?

Beinahe jede HR-Diskussion kreist um das Wort «Fachkräftemangel.» Doch wie gravierend ist die Situation tatsächlich? anlässlich des von Rundstedt und HR Today organisierten «HR Today Research Roundtables» diskutieren Arbeitgebervertreterin Daniella Lützelschwab, Accenture-HR-Leiterin Corinna Schmalz,
Valantic-CEO Urs Häusler und von Rundstedt-CEO Pascal Scheiwiller. 

(Von links: Pascal Scheiwiler, CEO, von Rundstedt, Urs Häusler, CEO Valantic, Corinna Schmalz, HR-Director, Accenture, Daniella Lützelschwab, Ressortleiterin Arbeitsmarkt, Schweizerischer Arbeitgeberverband.

«Der Begriff Fachkräftemangel ist kein Modewort» beantworten Daniella Lützelschwab, Corinna Schmalz, Urs Häusler und Pascal Scheiwiller die Frage, inwiefern dieser Ausdruck manchmal zu leichtfertig in die Runde geworfen wird. Für Arbeitgebervertreterin Daniela Lützelschwab ist die demografische Entwicklung ein markanter Treiber  für die grösser werdende Kluft zwischen benötigten und auf dem Arbeitsmarkt erhältlichen Skills. Daneben fördere die Digitalisierung den Strukturwandel. Doch nicht alle Branchen seien gleich stark von dieser Entwicklung betroffen. Am grössten sei der Personalbedarf insbesondere in den Mint-Berufen, im Gesundheitswesen, in den Versicherungen und in den Banken. Der Fachkräftemangel bleibe auch bei Accenture nicht unbemerkt, sagt HR-Leiterin Corinna Schmalz. Das Unternehmen könne seinen Personalbedarf auf dem Schweizer Arbeitnehmermarkt nicht decken. Diese Schwierigkeiten hat auch Startup-Gründer Urs Häusler: Entwickler findet er mittlerweile häufiger in Bulgarien, Ukraine, Spanien oder Portugal als in der Schweiz. Allerdings entspricht dies nicht seinem Arbeitgeberideal: «Wir wollen hier arbeiten und Arbeitsplätze anbieten.» Für von Rundstedt-CEO Pascal Scheiwiller manchmal eine paradoxe Situation, denn «einige unserer Klienten mit MINT-Berufen haben Mühe, eine neue Stelle zu finden. Das weist auf ein strukturelles Problem auf dem Schweizer Arbeitsmarkt hin.»


 

Weitermachen wie bisher ist keine Option, sind sich die vier Diskussionsteilnehmer einig: So plädiert Daniella Lützelschwab auf politischer Ebene dafür, «nicht auf Vorrat zu regulieren, die Unternehmen einzuschränken und dann zu merken, dass einen die Technologie bereits eingeholt hat, bevor die Gesetze in Kraft getreten sind.» Eine Haltung, die Urs Häusler befürwortet. Er sieht weiteren politischen Handlungsbedarf. Etwa bei der Erteilung von Arbeitsbewilligungen aus Drittstaaten. «Wir bilden Studenten mit unseren Steuergeldern an unseren Universitäten aus und schicken sie dann in ihre Ursprungsländer zurück, sobald sie ein Diplom oder ein Doktorat gemacht haben, weil wir keine Arbeitsbewilligung für sie erhalten.» Dies verhindere, dass in der Schweiz Unternehmen gegründet und Arbeitsplätze geschaffen würden. Bei Accenture sieht man sich mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert. «Es dauert drei bis vier Monate, bis wir eine Arbeitsgenehmigung für Mitarbeitende bekommen, die aus Drittstaaten ausserhalb der Schweiz, der EU oder der Efta stammen», sagt Corinna Schmalz. Urs Häusler beklagt zudem, dass vielen staatlichen Stellen wie den RAVs trotz viel Goodwill oft das vertiefte Verständnis für die neuen Jobprofile fehle: «Eine offene Online-Marketing-Stelle kann nicht mit jedem Offline-Marketingfachmann besetzt werden. Marketing ist nicht gleich Marketing, ebensowenig wie ein Herzchirurg ein Allgemeinmediziner ist.» Auch Daniella Lützelschwab gibt sich kritisch: «Wenn im Juli der Inländervorrang eingeführt wird, zeigt sich, ob die RAVs verstanden haben, welche Kompetenzen Firmen suchen.»

Nebst der Politik gehöre das Schweizerische Bildungssystem auf den Prüfstand, findet Urs Häusler. «Rund die Hälfte der Jobs, die unsere Kinder dereinst ausüben, existieren noch nicht. Kinder, Jugendliche und Erwachsene müssen schon ab Primarschulstufe lernen, wie man vernetzt denkt, kreativ ist und mit neuen Technologien umgeht. Man sollte Unternehmertum und Mut fördern. Aufhören solle man damit, vorwiegend Schwächen zu therapieren und dafür Stärken gezielter fördern.» 

«Die Dynamik des Wandels wird immer grösser», sagt Pascal Scheiwiller. «Bildungsinstitutionen hinken mit ihren Angeboten der Entwicklung hinterher.» Deshalb werde Agilität zu einer Schlüsselkompetenz bei Arbeitnehmern. «Unser Bildungssystem Agilität als Metakompetenz auf allen Stufen fördern.» Dies vor allem deshalb, weil Agilität dem Sicherheitskonzept und der menschlichen Natur widersprechen.

Die Forderung, dass sich das Bildungswesen stets weiterentwickeln soll, stösst bei Daniela Lützelschwab auf Verständnis. «Verschlafen haben wir jedoch nichts. Die jungen Leute, die ihre Ausbildung heute abschliessen, sind gut gerüstet für die Zukunft – sie müssen aber am Ball bleiben und an ihre Entwicklung denken.» 

Um die Fachkompetenz der Mitarbeitenden zu erhalten, seien zusätzlich auch Betriebslösungen gefragt. Firmen müssten vermehrt in die Aus- und Weiterbildung ihrer Mitarbeitenden investieren, lautet der Tenor der vier Roundtable-Teilnehmenden. «Zeitgleich», so Schmalz, «sollen Firmen vermitteln, dass es den normalen Karrierepfad nicht mehr gibt.» Lebenslanges Lernen ist für alle Berufstätigen ein Muss und wird gemäss Corinna Schmalz besonders von jungen Mitarbeitenden «immer häufiger aktiv eingefordert.» Könne man eine solche Perspektive nicht vermitteln, sei man «im Vergleich mit anderen Arbeitgebern gleich deutlich unattraktiver.»

In der Schweiz existiert viel unausgeschöpftes Mitarbeiter-Potenzial. Etwa bei den über 50-Jährigen und bei Frauen. Doch wie gross ist dieses eigentlich genau? Und weshalb nutzen es Arbeitgeber nicht besser? «Unternehmen müssen mutiger sein», fordert Urs Häusler. «Und Menschen eine Chance geben, die auf den ersten Blick nicht die passendsten sind.» Etwa einem über 50-Jährigen, der einen Karriereschritt zurück machen will. «Irgendjemand, der mal 100 Leute geführt hat, will das vielleicht nicht mehr tun und wird vom Verkaufsleiter zum Sales-Mitarbeitenden.» Eine Karriere müsse nicht nur aufwärtsgehen. Dafür hat das Startup ein Geheimrezept: «Wir arbeiten mit Rollenmodellen. Ein Entwickler kann eine Teamleitung übernehmen, er kann aber dabei Entwickler bleiben.» Je nach Rolle verändere sich der Lohn. Das sorge im Unternehmen jedoch für keinerlei Unruhe, denn «die Mitarbeitenden verstehen das Lohnmodell.» Dass trotz vorhandener Ideen so wenig ältere Mitarbeitende eingestellt werden, habe mit Vorurteilen zu tun, meinen Scheiwiller und Häusler. «Man glaubt ihnen nicht, dass sie für weniger Geld arbeiten und im Unternehmen bleiben wollen.» Daniella Lützelschwab hingegen vermutet: «Ins zweite Glied zurückzutreten wirkt meist verdächtig». Fast niemand tue das freiwillig. «Es braucht ein gesellschaftliches Umdenken.»

Nicht nur über 50-jährige haben auf dem Arbeitsmarkt zu kämpfen. Für viele Frauen entpuppt sich die schlechte Vereinbarkeit von Beruf und Familie weiterhin als hohe Hürde. Während Grossfirmen in Kinderbetreuungsangebote investieren, schlagen Firmen wie Valantic andere Wege ein: «Ein Kleinunternehmen kann zwar keine Krippen betreiben, hat dafür aber andere Fringe Benefits wie flexible Arbeitszeiten, Home Office oder eine starke Unternehmenskultur», sagt Häusler. 

Mit der Integration der über 50-jährigen, den Frauen und anderen potenziellen Arbeitnehmergruppen sei der Fachkräftemangel jedoch nicht behoben, meinen die Roundtable-Teilnehmer. «Wir sollten uns nichts vormachen», sagt Pascal Scheiwiller: «Es genügt nicht, die Erwerbsquote der Frauen, der Ü50 sowie der Pensionierten zu erhöhen, um den Fachkräftemangel zu beheben. Von den zusätzlichen Arbeitskräften passt nur ein kleiner Teil auf die gefragten Jobprofile.» Allerdings werde der Fachkräftemangel zum hausgemachten Mangel, wenn Unternehmen nicht mehr bereit seien, Leute einzustellen, die nicht genau dem Zielprofil entsprechen. 

«Junge, innovative Unternehmen Firmen werben auf den richtigen Kanälen für sich. Das bekommt die Öffentlichkeit meist nur nicht mit», sagt Schmalz auf die Frage, ob sich die Firmen zu schlecht verkaufen. Handlungsbedarf sieht sie speziell bei den KMUs, die sich «besser vermarkten, positionieren oder mit anderen Unternehmen zusammenspannen müssen.» Für Urs Häusler kein Thema: «Firmen müssen ihre Stellen genauso vermarkten wie ihre Produkte». Etwas anders nimmt Pascal Scheiwiller die Situation wahr: «Viele Arbeitgeber verkaufen sich nicht gut.» So gebe es in der Schweiz viele sogenannte «Hidden Champions» –  Unternehmen, die man nicht kenne, die aber in irgendeiner Nische Weltmarktführer sind. «Diese Firmen sind attraktive Arbeitgeber. Sie haben aber Mühe, geeignete Fachkräfte zu finden, weil sie auf dem Arbeitsmarkt nicht aktiv für sich werben und sich verkaufen», sagt Pascal Scheiwiller. «Damit diese Unternehmen sichtbarer werden und an Fachkräfte kommen, benötigen sie Employer Branding Aktivitäten.» 

Ob Frau, Mann, jung oder alt: Hat eine Firma die passenden Fachkräfte einmal gefunden, muss diese Wege finden, um sie zu halten. «Wichtig ist, den Fachkräften Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten und ihnen regelmässig Feedback zu geben», sagt Schmalz. Accenture wolle den Mitarbeitenden eine Heimat geben. «Sie sollen wissen, dass wir uns um sie kümmern, ihre Leistungen wahrnehmen und ihre persönlichen Umstände berücksichtigen.»


Zur aktuellen von Rundstedt Studie

Der Outplacement-Experte von Rundstedt lanciert an der Personal Swiss 2018 gemeinsam mit HR Today eine neue Staffel der Studienserie «HR Today Research».

Von April bis Juli 2018 ist die Schweizer HR-Community aufgefordert, an einer Umfrage teilzunehmen, die von Experten der von Rundstedt & Partner Schweiz AG konzipiert wurde. 2018 stehen die widersprüchlichen Phänomene des «Fachkräftemangels» sowie die «Ü 50-Problematik» der «ausgedienten Alten» im Fokus. Die Studieninhalte werden im Sommer ausgewertet, im Herbst publiziert und danach an einem Netztwerk-Event präsentiert.

 

Bereits veröffentlicht: Arbeitsmarkttrends

 


 


Bereits seit 1985 berät von Rundstedt Unternehmen und Einzelpersonen in Fragen rund um die Karriere und die Laufbahnentwicklung. von Rundstedt ist heute an 26 Standorten und mit mehr als 390 Mitarbeitern in Deutschland, Österreich und in der Schweiz tätig. Zur weiteren fokussierten Entwicklung der Geschäftstätigkeit in der Schweiz hat von Rundstedt 2014 die von Rundstedt & Partner Schweiz AG gegründet. Gerne beraten wir Sie an unseren acht Standorten in Basel, Bern, Genf, Lausanne, Lugano, St. Gallen, Zug und Zürich. ww.rundstedt.ch